Der kleinste Kandinsky der Welt

26. September 2023, Nr. 54

Physiker der Universität Stuttgart minimiert Kandinskys farbenprächtiges Landschaftsbild "Improvisation 9" auf die Größe eines Staubkorns.
[Bild: 4. Physikalisches Institut / Universität Stuttgart]

Ein Gemälde auf Haaresbreite schrumpfen lassen und dabei alle Farben originalgetreu abbilden? Dr. Mario Hentschel vom 4. Physikalischen Institut der Universität Stuttgart ist das gelungen. Der Physiker strukturierte Kandinskys „Improvisation 9“ mittels Ionenstrahl-Lithographie – einer Strukturierungstechnik aus der Halbleiterindustrie – auf eine Fläche von 180 x 180 Quadratmikrometern. Unter dem Mikroskop entpuppen sich neue Chancen für die Archivierung von Kunst sowie für Anwendungen in der Sensorik, Nanophotonik und Halbleitertechnik. Wie Kunst und Physik im kleinsten Kandinsky der Welt zusammentreffen, können Besucher*innen und Schulklassen bis zum 3. Dezember 2023 in der Staatsgalerie Stuttgart herausfinden.

Farben entstehen aus der Reflexion bzw. Absorption von Licht. So simpel das auch klingen mag, ist es doch eine echte Herausforderung, die gesamte Farbpalette physikalisch abzubilden. Nanophotonische Strukturen mit Resonanzen im ultravioletten, grünen oder gelben Spektralbereich (oder eben Strukturen, die diese Farben zeigen), sind kaum oder nur sehr aufwendig zu erzielen. Dadurch bleiben technische Potenziale, zum Beispiel in der Sensortechnologie und Nanophotonik ungenutzt. Dr. Mario Hentschel vom 4. Physikalischen Institut der Universität Stuttgart ist auf eine Möglichkeit gestoßen, die das ändern könnte.

Physiker schließt Licht in Luft ein

Dem Stuttgarter Physiker ist es gelungen, Licht in Luft anstelle von Material einzuschließen. „Materialien wie Silizium sind intransparent und verschlucken dadurch viel Licht“, erklärt Hentschel. „Wir haben herausgefunden, dass sich dieser Einsperrmechanismus umkehren lässt.“

Da Luft transparent ist und nahezu kein Licht absorbiert, gelingt es dem Physiker in schwer zugängliche Frequenzbereiche vorzudringen. Dadurch eröffnen sich neue Dimensionen, etwa für die Herstellung von Mikrochips und Kameralinsen, die Gestaltung von Sicherheitsfeatures, zum Beispiel für Kreditkarten, sowie für biomedizinische Analysen von Zellgewebe. Denkbar ist außerdem, Wissens- und Kunstschätze auf kleinstem Raum zu archivieren, ohne dass Schrift und Farbe mit der Zeit verbleichen.

Physik trifft Kunst

Um seine Entdeckung in all ihrer Farbenpracht zu demonstrieren, strukturierte Hentschel mittels Ionenstrahl-Lithographie Wassily Kandinskys „Improvisation 9“ auf einen Siliziumwafer – ein Ausgangsmaterial in der Mikroelektronik und Chipherstellung. Mit einem fokussierten Gold-Ionenstrahl, ähnlich wie ein Sand- oder Wasserstrahl aus einer Düse, wird Material direkt von der Oberfläche abgetragen. Dieser „Goldsandstrahl“ gräbt kegelförmige Löcher in die Siliziumscheibe. Je nach Tiefe und Durchmesser entstehen unterschiedliche Farben. Jedes der Löcher bildet einen Pixel des Bildes, dadurch hat der Mini-Kandinsky eine schier unvorstellbare Auflösung von 36.000 dpi (dots per inch).

Ein Ausschnitt der Kandinsky-Kopie unter dem Mikroskop. Mit einem fokussierten Gold-Ionenstrahl werden kegelförmige Löcher mit unterschiedlicher Tiefe und variierendem Durchmesser auf die Oberfläche eines Siliziumwafers eingeprägt. In der elektronenmikro-skopischen Aufnahme erkennt man gut die Struktur des Ausschnitts, so z.B. die Türme und das Dach des Kirchengebäudes.

„Was sich in einem einzelnen Loch abspielt, lässt sich mit einem Phänomen vergleichen, das uns zum Beispiel aus der Kuppel der St. Pauls Cathedral in London bekannt ist“, erklärt Hentschel. „Sie können deutlich hören, was eine Person sagt, die sich auf der anderen Seite der Kuppel befindet, so als stünden Sie neben ihr. Das kommt daher, dass sich der Schall entlang der Kuppelwand ausbreitet und dort eine stehende Welle bildet, wie die Schwingungen auf der Seite einer Geige. Sehr ähnlich verhält es sich mit Licht, das im Loch an der Grenzfläche zwischen dem Silizium und der Luft entlang bewegt.“

Innerhalb des zylindrischen Loches wird das Licht bei minimaler Absorption hin und her geworfen. Sichtbar für das Auge ist dieses Phänomen nur unter dem Mikroskop, denn die Kandinsky-Kopie misst 180 x 180 Quadratmikrometer – ein menschliches Haar hat im Vergleich etwa eine Dicke von 80 Mikrometern.

Der Mini-Kandinsky passt auf eine Fläche von 180 x 180 Quadratmikrometern – das entspricht etwa der Spitze einer Stecknadel oder der Größe eines Staubkorns. Hier im Vergleich zu einer 1-Cent-Münze.

Mini-Kandinsky in der Staatsgalerie neben Original ausgestellt

Der Mini-Kandinsky ist bis zum 3. Dezember 2023 in der Staatsgalerie Stuttgart neben dem Original zu sehen. Das Nano-Duplikat passt beinahe 40 Millionen mal in das Original mit einer Kantenlänge von 110 Zentimetern. Die Ausstellung des Sonderstücks ist eine Kooperation zwischen der Staatsgalerie, der Universität Stuttgart und der Carl Zeiss AG, die das optische Mikroskop für die Visualisierung zur Verfügung stellt. Gemeinsam mit dem Kurator Hendrik Bündge bietet Hentschel Führungen an – sowohl zum Werk Kandinskys als auch zu dessen physikalischer Kopie. Schulklassen der Oberstufe technischer Gymnasien und Physikleistungskurse haben freien Eintritt. Die Führungen finden statt am

  • 10. Oktober 2023, 10:15 bis 11:15 Uhr
  • 12. Oktober 2023, 17:00 bis 18:00 Uhr
Links die von Dr. Mario Hentschel gefertigte Kopie, rechts das Original der „Improvisation 9“ von Wassily Kandinsky.

Informationen und Veranstaltungen in der Staatsgalerie Stuttgart

Fachlicher Kontakt:

Dr. Mario Hentschel, Universität Stuttgart, 4. Physikalisches Institut
Tel.: +49 711 685 65104 , E-Mail

Pressekontakt

Dieses Bild zeigt Jacqueline Gehrke

Jacqueline Gehrke

 

Redakteurin Wissenschaftskommunikation

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