Ich möchte mit einer kleinen historischen Zusammenfassung beginnen: Im Jahr 2005 hat die Bundesregierung im Rahmen der sogenannten Exzellenzinitiative die Grundregel „Bildung ist Ländersache“ aufgebrochen, was damals durchaus eine Revolution in der Forschungsförderung darstellte. Mit einem Multimillionen-Programm sollte die Weiterentwicklung existierender Stärken und Schwerpunkte ausgewählter Universitäten weit über den üblichen Rahmen hinaus sichergestellt werden: Gesucht waren visionäre Ansätze mit dem Potential „das große Rad zu drehen“ im Sinne von Disruptivität, Interdisziplinarität und Strukturänderung. Die Universität Stuttgart konnte mit dem Antrag „Simulation Technology – From Isolated Numerical Approaches to an Integrative Systems Science (SimTech)“ überzeugen, so dass in den letzten zehn Jahren immerhin mehr als 62 Millionen Euro an die Universität Stuttgart geflossen sind. Nach einigen politischen Diskursen wurde aus der Exzellenzinitiative die nachhaltigere Exzellenzstrategie, und auch hier konnte die Universität Stuttgart mit einer Neuausrichtung von SimTech punkten, so dass der Exzellenzcluster „ Data-integrated Simulation Science“ ab 2019 für sieben Jahre mit insgesamt mehr als 50 Millionen Euro gefördert wird.
Während der ersten Förderperiode wurden zahlreiche Strukturen geschaffen, beispielsweise ein konsekutiver Bachelor- und Master-Elitestudiengang und eine Graduiertenschule mit mehr als 120 Promotionen. Mit dem Stuttgarter Zentrum für Simulationswissenschaft existiert zudem eine fakultätsähnliche „Hülle“ für den Cluster, den Studiengang und die Graduiertenschule. Für das SC SimTech wurde nebenbei sogar das Landeshochschulgesetz geändert, das ist eine weitere Premiere in Deutschland: Die Idee war, mit dem SC SimTech eine interdisziplinäre und orthogonal zu den existierenden Fakultäten ausgerichtete Organisationsstruktur zu schaffen.
Bilder sagen mehr als viele Worte, deshalb verweise ich auf den Imagefilm des Exzellenzclusters
Die Mathematik kam in dem Imagefilm ja nicht direkt vor. Welche Rolle spielt sie in SimTech?
Die kurze Antwort auf diese Frage lautet plakativ: Mathematik ist die Grundlage der Simulationswissenschaft. Diese Aussage lässt sich daran festmachen, dass immerhin acht Mathematikprofessorinnen und -Professoren, zwei -Postdocs und ab dem Wintersemester eine neue Juniorprofessorin direkt mit Projekten am Exzellenzcluster SimTech und am SC SimTech beteiligt sind.
Die „Wahrheit“ ist wie natürlich mehrdimensionaler, und man könnte sogar soweit gehen, dass wir in den letzten 25 Jahren der Neubildung einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin beigewohnt haben, die wesentlich auf der Mathematik fußt, und auch die Mathematik selbst verändert.
Etwas ähnliches begann vor 100 Jahren, als mit der Kombination von Elektrotechnik im erweiterten Sinne und der formalen und strukturbildenden „reineren“ Mathematik die Informatik begründet wurde. Nun hat sich aus dem interdisziplinären Zusammenschluss der „angewandteren“ Mathematik, der mittlerweile vollständig etablierten Informatik, und den Natur-, Ingenieurs- und Lebenswissenschaften die Simulationswissenschaft kristallisiert und etabliert.
Können Sie konkrete Beispiele für die Beiträge der Mathematik nennen?
Wir als Stuttgarter Mathematik sind an allen drei im Filmchen genannten Schwerpunkten beteiligt. Beispielsweise beschäftigen sich eine Doktorandin und ein Doktorand in meiner Gruppe mit einem Multiskalen-Multiphysik-Modell zur Muskelaktivierung: Kollegen aus der Biomechanik beschreiben subzelluläre Mechanismen wie elektrische Impulse aus dem Rückenmark und Konzentrationsänderungen auf Zellmembranen, die dann akkumuliert über sogenannte schnelle und langsame Muskelfasern erklären können, warum derselbe Armmuskel gleichzeitig sehr feinmotorische und sehr grobmotorische Bewegungen durchführen kann. Diese Modelle sind inkrementell gewachsen und so komplex, dass sehr spezielle Techniken zur Berechnung von Lösungsapproximationen nötig sind – eine „Lösungsformel“ kann man sowieso vergessen. Solche Verfahren entwickeln wir, und beweisen präzise Schranken für die unvermeidbaren Approximationsfehler. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die rigorose Rechtfertigung der Modelle, insbesondere bei der „inversen“ Fragestellung, d.h. wenn nicht die Muskelbewegung unbekannt ist, sondern aus mehreren gemessenen Bewegungen vernünftige Rückschlüsse auf die Parameter im Modell gezogen werden sollen jenseits von einfachem Fitting.
Wenn man der Presse und einige populärwissenschaftliche Veröffentlichungen Glauben schenkt, so können Machine Learning und künstliche Intelligenz alle Probleme dieser Welt lösen. Tatsächlich sind wir weit davon entfernt LINK , und es ist sogar so, dass oft nicht mehr erklärbar ist, warum ein Algorithmus zu einer bestimmten Entscheidung gekommen ist. Diese Demystifizierung von Machine Learning, also das Aufbrechen der „ black box machine learning“, ist das Forschungsgebiet einiger Gruppen am ISA und IANS, und ein wichtiger Aspekt der Datenwissenschaften und der Stochastik und Statistik.
Auf den Webseiten der Mathematik-Institute IANS , ISA , des IADM und IMNG finden sich zahlreiche weitere Beispiele.
Das klingt aus der Perspektive der Forschung natürlich verlockend. Was haben denn Studierende der Mathematik davon?
Als generell ironischer Mensch kokettiere ich gerne damit, dass es gesellschaftlich anerkannt ist, in Mathematik schlecht zu sein. Mit einem Augenzwinkern sage ich deshalb immer gerne, dass sich ein gutes Thema für eine Abschlussarbeit dadurch auszeichnet, dass fachfremde Freunde und Bekannte nach zwei Sätzen Erklärung mit dem Ausspruch „Oh, das ist Mathematik? Das hätte ich nicht gedacht.“ reagieren. Genau solche Abschlussarbeiten, die die Schönheit und Rigorosität der Mathematik mit sehr konkreten Fragestellungen aus den Natur-, Ingenieurs- und Lebenswissenschaften verbinden, sind durch das starke Engagement der Mathematik im SC SimTech für Mathematik-Studierende besser möglich als vorher, weil die Menge der Anwendungsgebiete durch die Interdisziplinarität der Zusammenarbeit im SC SimTech, und damit die möglichen Berufsausrichtungen nach dem Studium, stark erweitert haben in den vergangenen Jahren.
Spätestens im Masterstudium schadet es auch nicht, schon einmal an aktuellen Forschungsfragen zu schnuppern, sei es als Forschungs-HiWi oder in einer Abschlussarbeit. Hier bietet der Exzellenzcluster zahlreiche Möglichkeiten. Und natürlich ist es so, dass das Interdisziplinäre, das SimTech auszeichnet, direkt in die Vorlesungen am Fachbereich eingeht in Form von „echten“ Anwendungsbeispielen und zahlreichen Ausblicken, wofür das Gelernte gut sein kann. So etwas hat mir während meines Studiums definitiv gefehlt.
Prof. Dr. Dominik
Göddeke
Institut für Angewandte Analysis und Numerische Simulation (IANS)
Lehrstuhl Mathematische Methoden für komplexe Simulationen