Was wird in Ihrer Arbeitsgruppe geforscht?
Das Leben auf unserem Planeten ist faszinierend und hat eine erstaunliche Komplexität. Wie schafft es eine Bakterienzelle, sich an unterschiedliche Bedingungen anzupassen und zuverlässig auf äußere Einflüsse und Signale zu reagieren? Welche Prozesse spielen sich im Körper bei der Entstehung von Krankheiten ab und wie kann man hier wirksam gegensteuern? Wie kommunizieren verschiedene Zellen unseres Körpers miteinander und was passiert, wenn diese Kommunikation gestört ist?
All dies sind spannende Fragen, für die es hilfreich ist, lebende Systeme als komplexes dynamisches Netzwerk miteinander interagierender Komponenten zu verstehen. Wir interessieren uns in erster Linie für Prozesse und Regulierungsmechanismen auf sehr kleiner Skala. Genauer gesagt für Zellen, welche zu klein sind um vom menschlichen Auge erkannt zu werden. Unsere Forschung beschäftigt sich mit der mathematischen Modellierung, Simulation und Analyse von intrazellulären Prozessen und deren Zusammenhang mit phänotypischen Merkmalen auf größeren Skalen.
Wir möchten zu einem besseren ganzheitlichen Verständnis dieser Prozesse beitragen. Letztendlich mit dem Ziel, diese Prozesse verändern und gezielt beeinflussen zu können. Wir forschen in enger Zusammenarbeit mit Kolleg*innen aus den Lebenswissenschaften. Unsere Schwerpunkte sind hierbei Konzepte für eine Daten-getriebene Modellierung und die Integration von Einzelzell- und sogenannten „bulk“-Daten, also Mittelwerte aus mehreren Zellen, in Computermodelle. Wir verwenden hierzu vorwiegend statistische Methoden, welche es erlauben, Unsicherheiten in allen Modellgrößen konsistent abzuschätzen. Meine Vision ist es, ausgehend von empirischen Evidenzen und mathematischen Modellen zu zuverlässigen Vorhersagen über die Funktionsweise biologischer Systeme zu kommen. Der in Stuttgart starke Profilbereich Simulationswissenschaften hat dabei meine Forschungen wesentlich geprägt. Nicht zuletzt durch den Potenzialbereich Biomedizinische Systeme haben wir als Arbeitsgruppe die spannende Möglichkeit, unsere Forschung noch mehr auf klinische Fragestellungen wie beispielsweise über den Verlauf von Krankheiten und die Optimierung personalisierter Therapien auszurichten. Die drei Schwerpunkte unserer Arbeit sind konkret:
- Daten-basierte Modellierung und Modell-basiertes Design zellulärer Prozesse
- (Stochastische) Modellierungsansätze zur Beschreibung von Heterogenität in Zellpopulationen
- Statistische Sampling-basierte Methoden für die Modellidentifikation und Unsicherheitsabschätzungen
Mit meiner Arbeitsgruppe möchte ich zu einer engen Vernetzung der Fakultät 8 mit Kolleginnen und Kollegen aus den Lebenswissenschaften, insbesondere den Fakultäten 3 und 4, beitragen.
Warum braucht man dazu interdisziplinäre Forschung?
Unsere methodischen Ansätze zur Modellierung und Modellanalyse können der Angewandten Mathematik zugeordnet werden. Ich lege dennoch immer großen Wert darauf, dass meine Arbeitsgruppe interdisziplinär zusammengesetzt ist, ganz gemäß dem Stuttgarter Weg der vernetzten Disziplinen. Dies sorgt für einen regen Austausch innerhalb der Arbeitsgruppe. In vielen Projekten sind wir das Bindeglied zwischen Experimentator*innen, Statistiker*innen, Mediziner*innen und anderen Forscher*innen. Wir stellen Modelle auf, um komplexe Prozesse in lebenden Systemen verständlich zu machen. So werden Vorstellungen über biologische Systeme überprüft und oft andere Wirkmechanismen als ursprünglich angenommen entdeckt.
Der Fachbereich Mathematik, und insbesondere auch unser Exzellenzcluster Daten-integrierte Simulationswissenschaften, der SC SimTech sowie das ‚Stuttgart Research Center Systems Biology (SRCSB)‘ bieten mir optimale Rahmenbedingungen und ein ideales Umfeld, um über Fachgrenzen hinweg an komplexen Fragestellungen zu arbeiten und sich auszutauschen.
Was begeistert Sie an Ihrer Arbeit besonders?
Als Professorin habe ich sehr viele Freiheiten und großen Gestaltungsspielraum. Ich kann mir aussuchen, an welchen Themen ich forsche und wie ich Projekte gestalte. Ähnlich sieht es auch für die Lehre aus. Mein Beruf erlaubt es, Dinge auszuprobieren und zu experimentieren. Auf der anderen Seite habe ich immer mit motivierten jungen Menschen zu tun, die ein Qualifikationsziel vor Augen haben, neugierig und wissbegierig sind. In meiner Funktion darf ich viele von Ihnen ein Stück auf ihrem Weg begleiten und selbst auch dabei lernen. Dies sehe ich als besonderes Privileg an.
Welche Vorkenntnisse müssen Studierende mitbringen um im Rahmen einer studentischen Arbeit oder Doktorarbeit in Ihr Forschungsgebiet einzusteigen?
Das ist schwierig pauschal zu beantworten, da es zumindest für eine Bachelor- oder Projektarbeit stark vom Projekt abhängt. Hilfreich für die meisten Themen sind erste Erfahrungen in einer Programmiersprache (bevorzugt Python), mathematische Grundkenntnisse, sowie ein Interesse an interdisziplinären Themen im Bereich Lebenswissenschaften. Für eine Masterarbeit ist es hilfreich, Lehrveranstaltungen im Bereich Modellierung und / oder Statistik / Stochastik besucht zu haben. Insbesondere für eine Promotion ist es wichtig, Spaß an Kommunikation und dem interdisziplinären Austausch zu haben. Dazu gehört es auch, sich ein Stück weit mit anderen Fachdisziplinen auseinanderzusetzen um Brücken bauen zu können. Zum Glück habe ich eine tolle Gruppe, in der das sehr gut funktioniert.
Prof. Nicole Radde
Lehrstuhl für Mathematische Modellierung und Simulation zellulärer Systeme
Institut für Stochastik und Anwendungen