Die offensichtliche Frage vorab: Wie sind Sie eigentlich auf die Mathematik gekommen, Herr Schwahn?
Bereits in meiner frühen Kindheit hatte ich eine Affinität zu Zahlen. Irgendwie erfüllten mich schon damals diese abstrakten Objekte, die in ihrer eigenen Welt nach ihren eigenen Regeln leben, mit einer gewissen Faszination. Enzensbergers Zahlenteufel habe ich verschlungen und mich auch schon früh mit der Unendlichkeit beschäftigt. Wahrscheinlich fiel es mir deshalb in der Schule leicht, in Mathe die abstrakten Konzepte und Zusammenhänge zu begreifen - das anschließende Rechnen war eigentlich nur stumpfe Handarbeit. Ich war zwar gut in Mathe, aber es war bei weitem nicht mein Lieblingsfach. Daneben mochte ich noch andere Fächer wie Physik oder Chemie - sie forderten mich mehr und erklärten mir, was die Welt im Innersten zusammenhält. Ich habe mein Interesse für die Mathematik jedoch nicht verloren - was ich zu einem großen Teil guten Mathematiklehrern wie Herrn Dr. Oganian vom LGH Schwäbisch Gmünd zu verdanken habe, der mich überdies auch ermutigte, an Mathematikwettbewerben teilzunehmen.
Der Inhalt des Mathematikunterrichts ließ und lässt meiner Ansicht nach zu wünschen übrig - zu viel mechanisches Einsetzen und Auflösen, zu wenige interessante Konzepte oder gar logische Beweise. Dies ist, schätze ich, mit ein Grund dafür, dass die Mathematik in der Gesellschaft nicht so gut dasteht. Dass ich schließlich Mathe studierte, war mehr ein Zufall - ich wusste nicht, ob ich Mathe oder Chemie studieren soll, nur konnte ich mich für Mathe früher einschreiben. Ich habe diese Entscheidung aber bis heute nicht bereut.
Sie haben das Ansehen der Mathematik in der Gesellschaft erwähnt. Liegt das wirklich nur am Matheunterricht?
Nicht nur. Ich finde ja, man kann die Mathematik im Prinzip auch als eine Kunst ansehen. Die Kunstwerke der Musiker bestehen aus Klängen, die der Maler aus Farben und Motiven, die der Mathematiker eben aus abstrakten Ideen und ihrer Beziehung untereinander.
Mathematik ist eben mehr als nur ein Hilfsmittel für die Naturwissenschaften. Darum betreibe ich Mathematik um ihretwillen. Wobei manche Anwendungen auch interessant sind, aber… Ich schweife ab. Jedenfalls wird der künstlerische und kreative Charakter der Mathematik im Unterricht praktisch nicht vermittelt, was wirklich schade ist. Einen sehr interessanten (wenn auch reißerischen) Essay dazu hat der Mathematiker und Lehrer Paul Lockhart geschrieben. Er heißt "A Mathematician's Lament" und befasst sich mit genau diesem Problem. Dabei bezieht er sich zwar primär auf das US-amerikanische Bildungssystem, aber man kann einige Parallelen zu dem deutschen finden.
Ein damit zusammenhängendes Problem ist, dass die meisten Leute nicht wissen, was Mathematik überhaupt ist. Sie kennen sie nur aus der Schule und haben sie zumeist als lästiges Übel empfunden, das höchstens ein paar Wissenschaftlern und Ingenieuren nützlich ist. Die Wahrheit ist, dass die Mathematik mehr ist als ein paar Rechentricks. Sie geht viel tiefer, als sich jemand vorstellen kann, der sich noch nie damit befasst hat. Und es geht eben meistens nicht um das Berechnen von Unbekannten in von außen vorgegebenen Problemen. Es gibt so viele schöne Konzepte und Zusammenhänge in sehr vielen verschiedenen mathematischen Forschungsfeldern zu entdecken, sowohl vollkommen abstrakt als auch anschaulich und greifbar. Und ich als Masterstudent habe höchstens eine Ahnung von der Größe der Spitze des Eisbergs. Aber genug von der Poesie…
Äh, ja. Womit beschäftigen Sie sich denn am liebsten?
Meine beiden Lieblingsfelder sind zurzeit die Analysis und die Differentialgeometrie. In der Analysis kenne ich mich etwas mehr aus, zumal ich dort meine Bachelorarbeit bei Apl. Prof. Dr. Wirth geschrieben habe - das Thema fiel in den Bereich der Streutheorie, die sich grob gesagt damit beschäftigt, wie sich Wellen in der Gegenwart von Hindernissen ausbreiten. Genau genommen untersucht man bestimmte Differentialgleichungen, die die Ausbreitung der Welle beschreiben, zusammen mit Randbedingungen, die durch das Hindernis gegeben sind. Das ist eigentlich fast schon zu angewandt für mich. Aber ich könnte mir durchaus vorstellen, weiter in diese Richtung zu gehen. Die Analysis beschäftigt sich eigentlich mit dem Verhalten von Funktionen im Reellen und Komplexen, vor allem mit Begriffen wie das Ableiten.
Das zweite Steckenpferd, die Differentialgeometrie, beschäftigt sich mit abstrakteren Räumen, sogenannten Mannigfaltigkeiten, die im Grunde "aus der Nähe" so aussehen wie ein reell euklidischer Raum. Auch hier geht es um das Ableiten von Funktionen, nur unter anderen Bedingungen. Ich finde es interessant, dass Theorien, die eine ähnliche Motivation haben, doch so ganz verschieden aussehen können. Am liebsten würde ich irgendwo an einer Verbindung der beiden Gebiete arbeiten, aber ich bin weiterhin offen für alles. Andere Felder sind schließlich nicht minder interessant.
Herr Schwahn, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Paul Schwahn B.Sc.
Preisträger der Robert Bosch GmbH für herausragenden B.Sc. Abschluss am Fachbereich
Mathematik