Interview mit Prof. Martin Herdegen

24. April 2025

Porträts am Fachbereich Mathematik der Universität Stuttgart - Prof. Martin Herdegen

Prof. Herdegen, was wird in Ihrer Arbeitsgruppe geforscht?

Meine Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit ganz unterschiedlichen Themen aus der Finanzmathematik mit vier  Schwerpunkten:

  • Portfoliooptimierung in Finanzmärkten (mit Transaktionskosten)
  • Gleichgewichtsmodelle für Finanzmärkte und Stochastische Vorwärts-Rückwärts-Gleichungen
  • Risikomaße
  • (Automatic) Market Making

Beim ersten Thema geht es grob gesagt darum, wie man als Laie oder institutioneller Investor bei unterschiedlichen Risikopräferenzen in verschiedenen Marktsituationen sein Geld optimal anlegt. Mathematisch beschreibt man dabei verschiedene Finanzinstrumente (wie z.B. Aktien) durch stochastische Differentialgleichungen und das Portfoliooptimierungsproblem als ein stochastisches Kontrollproblem. Eine besondere Herausforderung dabei ist, Transaktionskosten (wie z.B. Broker-Gebühren) angemessen zu berücksichtigen. Für die Lösung kombiniert man Methoden aus verschiedenen Teilgebieten der Mathematik (stochastische Analysis, Lineare Algebra, Gewöhnliche und Partielle Differentialgleichungen, Numerik), was für mich einen besonderen Reiz dieses Problems ausmacht.

Beim zweiten Thema versuchen wir herauszufinden, wie sich Preise auf Finanzmärkten (z.B. Aktienkurse) durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage bilden. Mathematisch ist dies ein Fixpunktproblem auf einem unendlich dimensionalen Raum und somit relativ komplex. Dabei sind noch viele grundlegende Fragen offen. Ein relativ neuer Lösungsansatz ist, das Problem als System (gekoppelter) stochastische Vorwärts-Rückwärtsgleichungen zu beschreiben, was für sich selbst ein spannendes Gebiet in der stochastischen Analysis ist.

Beim dritten Thema beschäftigen wir uns sehr grundlegend mit der Frage, wie man finanzielles Risiko im Finanzbereich akkurat messen und somit langfristig zur Stabilität des Finanzsystems beitragen kann. Dabei stellt sich heraus, dass „Risiko“ verschiedene Dimensionen hat und man „ Risiko“ (einer Art) reduzieren kann, indem man „Risiko“ (einer anderen Art) erhöht – was in der Praxis wohl häufig geschieht, aber in der Regel nicht unbedingt zur Stabilität des Finanzsystems beiträgt. Mathematisch untersuchen wir dazu verschiedene (neue) Axiome, die ein „Risikomaß“ erfüllt oder nicht erfüllt, und welche Auswirkungen dies auf Kapitalanforderungen von Finanzunternehmen hat. Hierbei kommen vor allem Methoden aus der Funktionalanalysis zum Einsatz.

Beim letzten Thema untersuchen wir zum einen klassische elektronische Handelsplattformen wie sog. Limit Order Books als auch neuartige dezentralisierte Handelsplattformen wie sog. Automatic Market Makers, die auf Blockchain Technologie basieren. Gerade letztere Plattformen sind fast nicht reguliert und bieten neben Chancen auch große Gefahren für naive Investoren. Wir versuchen zu verstehen, was Stärken und Schwächen dieser neuen Handelsplattformen sind und wie diese gegebenenfalls verbessert werden können. Mathematisch benutzt man zur Lösung dieser Fragestellungen Methoden aus der stochastischen Kontrolltheorie.

Was begeistert Sie an Ihrer Arbeit besonders?

Für mich ist mein Beruf Berufung, und ich erachte es als ein großes Vorrecht, in Forschung und Lehre tätig sein zu dürfen. Das schließt insbesondere die folgenden drei Punkte ein.

Als erstes bin ich sehr dankbar für die große intellektuelle Freiheit, die ich in meiner Forschung habe. Als Finanzmathematiker in einem Unternehmen würde ich zwar vielleicht sehr viel mehr Geld verdienen, aber ich könnte die Probleme, an denen ich arbeite, nicht selbst wählen und vor allem könnte ich nicht in der Tiefe und in dem Detail über sie nachdenken, wie das im universitären Kontext möglich ist.

Als zweites genieße ich es sehr, mit ganz unterschiedlichen Personengruppen (Studierende, Doktoranden, Forschende vor Ort und weltweit) zu interagieren und in einem sehr internationalen Arbeitsumfeld tätig zu sein (meine 5 Doktoranden kommen aus 5 unterschiedlichen Ländern). Dabei macht mir die Interaktion mit Studierenden im Rahmen von Vorlesungen, Seminaren und Abschlussarbeiten vielleicht am meisten Freude.

Als drittes erachte ich es als ein riesiges Privileg, im Wesentlichen für Nachdenken bezahlt zu werden – und ich staune immer wieder darüber, dass dieses Nachdenken dann auch von praktischem Nutzen ist. Der berühmte Astronom und Mathematiker Johannes Kepler hat in einem Brief an den bayerischen Kanzler Herwart von Hohenburg seine Faszination über mathematische/naturwissenschaftliche Forschung einmal so beschrieben: „[Die Naturgesetze] sind innerhalb der menschlichen Fassungskraft. Gott wollte, dass wir sie erkennen, indem er uns nach Seinem Bilde geschaffen hat, damit wir in die Gemeinschaft seiner Gedanken kämen.“ Dem kann ich nur zustimmen.

Welche Schwerpunkte möchten Sie in der Lehre setzen?

Zunächst möchte ich meine Vorlesungen so halten, dass die Studierenden sich für die Schönheit der Mathematik, konkret der Stochastik und Finanzmathematik begeistern. Dazu versuche ich, mir immer wieder neu zu überlegen, wie ich – gerade auch in „Standartvorlesungen“ (ich darf in diesem Sommersemester die Maß- und Wahrscheinlichkeitstheorie lesen) – die Themen spannend, elegant und klar präsentieren kann.

Weiterhin möchte ich meine Expertise in Finanzmathematik und stochastischer Analysis einbringen und regelmäßig Vorlesungen wie Finanzmathematik 1 (Ende Bachelor), Finanzmathematik II (Anfang Master) oder Stochastische Analysis (Anfang Master) halten, und darauf aufbauend Seminare, weitergehende Vorlesungen und Abschlussarbeiten anbieten.

Schließlich ist mir Internationalität im akademischen Kontext sehr wichtig. Deswegen möchte ich dazu beitragen, dass im Fachbereich Veranstaltungen vermehrt auf Englisch angeboten werden.

Welche Vorkenntnisse sollten Studierende mitbringen, um im Rahmen einer Bachelor-, Master- oder Doktorarbeit in Ihr Forschungsgebiet einzusteigen? 

Die wichtigste Voraussetzung für mich ist eine Begeisterung für Stochastik und finanzmathematische Themen sowie eine Offenheit, sich neue Methoden und Techniken aus verschiedenen Teilgebieten der Mathematik (und darüber hinaus) anzueignen.

Für eine Bachelorarbeit ist Maß- und Wahrscheinlichkeitstheorie unumgänglich, weiterhin sind Funktionalanalysis sowie Finanzmathematik I wünschenswert. Programmierkenntnisse (insbesondere in Python) sind zwar nicht zwingend notwendig, aber für viele Themen von Vorteil.

Für eine Masterarbeit sollte man zusätzlich weiterführende Veranstaltungen aus dem Bereich der stochastischen Analysis und der Finanzmathematik besucht haben.

Für eine Promotion ist eine große Begeisterung für das Thema von zentraler Bedeutung. Zudem sollte man Durchhaltevermögen sowie Interesse an mathematischer Lehre mitbringen.

Prof. Martin Herdegen
Abteilung für Stochastik und Anwendungen 
Institut für Stochastik und Anwendungen

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