Prof. Taras Melnyk: „Die größten Ähnlichkeiten bestehen zwischen unseren gemeinsamen Werten und Bestrebungen.“
Der Zug von Zürich nach Prag, mit dem ich vom mathematischen Kongress (1994) zurückkehrte, machte einen 30-minütigen Halt in Stuttgart. In dieser Zeit schaffte ich es bis zum Anfang der Königstraße und mir wurde klar, dass ich diese Stadt wieder besuchen wollte.
Mein Traum wurde wahr. 1998 erhielt ich ein Stipendium von der Humboldt-Stiftung auf Einladung von Professor Wolfgang Wendland, der von 1986 bis 2004 ein Institut der Universität Stuttgart leitete – das heutige Institut für Angewandte Analysis und numerische Simulation (IANS).
Meine weitere wissenschaftliche Arbeit war mit dem IANS eng verbunden: Hier habe ich meine wichtigsten wissenschaftlichen Ergebnisse erzielt. Dank der Humboldt-Stiftung hatte ich nach dem Grundstipendium alle drei Jahre die Gelegenheit, im Sommer an der Universität Stuttgart zu forschen. Stuttgart wurde nach Kiew meine zweite Heimatstadt.
Die russische Besatzung
Im Sommer 2022 sollte ich wieder für zwei Monate an die Universität Stuttgart kommen, diesmal auf Einladung von Professor Christian Rohde, dem jetzigen Direktor des IANS. Der ausgewachsene Krieg Russlands gegen die Ukraine hat jedoch das Leben vieler Menschen zerstört und ihre Pläne durcheinandergeworfen. Nach den ersten Wochen des Krieges, als sich die russische Besatzung am Stadtrand von Kiew befand, als die Geschützfeuer vor dem Fenster nicht aufhörten, als russische Marschflugkörper in Kiewer Wohngebäude einschlugen, als die ersten Nachrichten aus Bucha über die Folterung und Exekution von Ukrainerinnen und Ukrainern eintrafen, die zeigten, wie grausam die Pläne von Putins Regime sind, beschlossen meine Frau und ich, Kiew zu verlassen. Zuerst fuhren wir mit einem Evakuierungszug nach Lwiw in der Westukraine und dann, nach der überzeugenden Einladung von Professor Rohde, nach Stuttgart. Die Humboldt-Stiftung ermöglichte es uns, von Mai 2022 bis Ende Februar 2023 in Deutschland zu bleiben.
Zusammen mit Professor Rohde haben wir während dieser Zeit interessante Ergebnisse über das asymptotische Verhalten von Lösungen für konvektionsdominierte Transportprobleme in dünnen Graph-artigen Knotenpunkten erarbeitet. Derzeit untersuchen wir ähnliche nichtlineare Probleme. Diese Studien stehen im Zusammenhang mit Forschungsarbeiten des SFB 1313. Daher habe ich die Möglichkeit, an allen Veranstaltungen im Rahmen des Projekts teilzunehmen, meine Ergebnisse zu präsentieren und mich mit neuen Erkenntnissen anderer Wissenschaftler*innen vertraut zu machen. Gleichzeitig habe ich als Professor an der Fakultät für Mechanik und Mathematik die Gelegenheit, für ukrainische Studierende Online-Vorlesungen und Seminare zu der Komplexen Analysis zu halten.
Gemeinsamkeiten wiegen mehr, als das, was uns trennt
Viele ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und einfache Ukrainerinnen und Ukrainer haben in den vergangenen Monaten des Krieges Unterstützung in Deutschland erhalten. Wenn meine Frau und ich an den Wochenenden deutsche Städte besuchten, sahen wir an jedem Rathaus drei Flaggen: die der Europäischen Union, die deutsche Flagge und die ukrainische. Ich möchte den Deutschen und der deutschen Regierung für die große Unterstützung danken, die sie Geflüchteten aus der Ukraine und unserem Militär zukommen lassen, das gegen die russischen Angreifer kämpft.
Es war eine angenehme Überraschung für mich, zu entdecken, dass es viele ähnliche Wörter in der deutschen und der ukrainischen Sprache gibt: Dach, Zucker, Kreide, Schublade, Krawatte. Und es gibt viele Verben mit einem gemeinsamen Stamm und derselben Bedeutung, aber unterschiedlichen Endungen: drucken – друкувати (druck-uvaty), färben – фарбувати (farb-uvaty), warten – вартувати (vart-uvaty).
Man beachte, dass diese Wörter im Russischen vollkommen anders lauten. Der Grund dafür war die Migration slawischer Stämme zwischen dem sechsten und achten Jahrhundert aus dem Gebiet zwischen den Flüssen Dnjepr und Vistula (Weichsel) im heutigen Ostpolen und in der Ukraine. Einer dieser westslawischen Stämme hieß „die Ukranen“. So wurden slawische Toponyme, Sprachen und andere Elemente schließlich in die heutige deutsche Kultur aufgenommen.
Die größten Ähnlichkeiten bestehen jedoch zwischen unseren gemeinsamen Werten und Bestrebungen. Gemeinsam streben wir nach Frieden und hoffen auf eine neue politische, ökonomische, wissenschaftliche und kulturelle Verbundenheit, die uns in jeder Hinsicht bereichert und nach dem Krieg umso mehr.
(Die englische Originalversion von Taras Melnyk wurde von Proverb oHG übersetzt.)
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